Berlin (Elberfeld1) d. 25. Januar 1905:

Liebe Geschwister!: 2

Da ich meinen beabsichtigten Besuch in Rellinghausen3 und Dahlen noch nicht ausführen konnte, auch nicht bestimmt in kurzer Zeit dorthin kommen kann, sende ich euch einen kurzen Bericht über unsere Reise nach Sulitjelma4, zu Leo‘s Hochzeit.

In der Woche vor Weihnachten war Leo einige Tage in Berlin, wo er Einkäufe für sich und seine Braut machte und wo wir (Gertrud5 und ich) mit ihm die von uns Geschwistern gemeinsam zu schenkenden Hochzeitsgaben kauften. Leo wählte eine moderne Stutzuhr6 mit zwei dazugehörigen Vasen im Preise von 155 Mrk., ferner schenkten wir eine Serie Bilder aus dem „Berg und Hüttenleben“7 und einige Kleinigkeiten, worüber ich noch Rechnung ablegen werde. Die Uhr ging wegen Fracht und Zoll nicht mit nach Sulitjelma, sondern soll mit andern Hochzeitsgeschenken direckt nach Magdanpeke8 geschickt werden. Leo reiste am Donnerstag vor Weihnachten allein ab, damit er am Weihnachtsmontag in Sulitjelma sein konnte, was ihm auch gelang. Er kam nämlich Montag früh 6 Uhr im Bodö9 mit dem Schiffe an, wo er am Quai zu seiner Überraschung Gudrun, ihn erwartend, vorfand, was bei 25 Gr. Kälte und einer Entfernung von Sulitjelma mit vier Stunden Schlittenfahrt und vier St. Wasserfahrt durch den Fjord eine Heldenthat , wozu bei einem 21jährigen Mädchen nur die Liebe fähig ist, genannt werden mußte.:


Unsere und Leo’s Freunde, welche fest versprochen hatten, die Reise nach Norwegen mitzumachen, wurden im letzten Augenblicke teils krank, teils verhindert, teils mutlos, so daß wir, also Gertrud und ich, am Freitag abend 11 Uhr allein mit dem DZug nach Kopenhagen und Göteborg (Schweden) fuhren. Auf Veranlaßung von Mitreisenden stiegen wir am hl. Abend (also Samstag Abend) ca. 8 Uhr in Trollhättan10 aus, um nicht die hl. Weihnachtsnacht auf der Eisenbahn zu liegen und um am andern Morgen die großartigsten schwedischen Wasserfälle in Trollhättan zu besichtigen.


In unserem Absteige-Hotel feierten die Angestellten Weihnachtsabend, woran wir aber leider nicht teilnehmen durften. (Ich will nur bemerken, daß wir in Berlin mit unseren Kindern und einigen Freunden das Weihnachtsfest nebst Bescherung bereits festlich begangen hatten.)

Ein herrlicher Weihnachtsmorgen mit warmer Sonne bei ca. 10 Gr. Kälte führte uns in die prachtvollen Berge mit den großartigsten, landschaftlich und auch technisch schönsten Wasserfällen, die ich je sah, allerdings nur mit etwas bitterm Genuß, denn wir saßen, in Decken gehüllt, im Wagen, weil mich plötzlich die Gicht im linken großen Zeh gepackt hatte und am Gehen fast total verhinderte. In Folge der bekannten schwedischen Gastfreundschaft erhielt ich vom Apotheker ein Gläschen tinctura colchich, ein Gift gegen Podagra11, welches nur gegen Recept verabfolgt wird, geschenkt. Dasselbe Mannöver , in Christiania12 2mal wiederholt, machte mich wieder gesund. In Christiania kamen wir nach durchfahrener Nacht am Montag früh an, besichtigten die Stadt der „Ibsen und Björnsen“ nebst schöner Umgebung und fuhren Dienstag früh 8 Uhr quer durchs Gebirge nach Trondhjem13, wo wir abends 12 Uhr anlangten. Es gibt in Norwegen und Schweden keine Speisewagen, sondern der Zug hält an bestimmten Stationen 25 bis 30 Minuten, so daß man im Wartesaal für 2-2.50 Mrk. von ca. 25 verschiedenen Gerichten, warm und kalt, nach Belieben nehmen und essen kann.

In Trondhjem gingen wir sofort zum Schiff und fuhren nachts 2 Uhr ab. Am andern Morgen fanden wir eine reizende Familie Smith aus Trondhjem (Vater, Mutter, Sohn und Tochter)14 sowie eine Tante Warloe aus Christiania als Schiffsgäste, welche auch zur Hochzeit nach Sulitjelma fuhren. Nach lustiger Seekrankheit und nach einer hochinteressanten Fahrt, an den teils Schnee- und Eisbedeckten Küsten, teils grün- und blauschimmernden Felsen und der zerrissenen Landschaft vorbei, gelangten wir Donnerstag früh 7 Uhr nach Bodö.

E. A. Smith und Frau Ingeborg Anna Smith (Røvig)


Der Kapitän vom Salondampfer der Hütte „Sulitjelma VI“ erwartete uns mit seinem Schiff, aber auch mit der Mitteilung, daß wir erst 11 Uhr abfahren könnten. Nämlich der lange Sulitjelma-Fjord, welcher von Bodö bis Fineidet15 geht und sich von dort in einem teils schmalen, teils breiteren Thale als Fluß bis zum großen See fortgesetzt, an welchem die Sulitjelma Gruben und Hütten liegen; dieser Fjord wird an einer Stelle von den steilen Bergen bis auf ca. 20 m verengt und bildet an dieser Stelle bei der alle 6 Stunden eintretenden Flut und Ebbe einen mächtigen Wasserfall und Strudel, so daß die Hüttendampfer nur immer grade in der Mitte zwischen Flut und Ebbe fahren können.
In Bodö (also jetzt 7 Hochzeitsgäste) telephonierten wir mit Herrn Knudsen und fuhren 11 Uhr ab. Im Schiffssalon war großes Festessen! Die Schiffsköchin erzählte uns die rührende Szene, wie auf der vorhergehenden Fahrt das Brautpaar, welches sich, wie schon vorher berichtet, früh 6 Uhr am Quai getroffen hatte, jetzt zum ersten Male im Leben, nachdem sie sich im Herbst nur kurze Zeit im Elternhause gesehen und gesprochen haben, einige Stunden allein gesessen, geplaudert und gekost hätten.
Eine indiale Liebe oder wie der Dichter sagt:
Die Liebe ist ein Blütensegen,
Der heilig in der Seele ruht!
Kein Röslein ist‘s, daß an den Wegen
Man pflückt für seinen Wanderhut!
Das letztere war bis jetzt bei Leo der Fall!!!

  1. Alexander Zenzes lebte zu diesem Zeitpunkt in Berlin, hatte aber offensichtlich schon in (Wuppertal)- Elberfeld, wo er sich auf der Durchreise aufgehalten haben dürfte, mit der Abfassung des Briefes begonnen. Die Interpunktion ist behutsam an die heute gültigen Regeln angepasst worden. Bei der Orthographie wurden die veralteten oder einer gewissen Nachlässigkeit geschuldeten Schreibvarianten beibehalten. In letzteren Fällen sind an manchen Stellen Korrekturen in eckigen Klammern zur Anwendung gekommen. Der Originalbrief ist auf jedem Blatt mit Tesafilm geklebt worden. Dies hat im Laufe der Zeit dazu geführt, dass die Schrift im geklebten Bereich nicht oder kaum mehr zu lesen ist. Ich habe in diesen Fällen die Abschrift meines Vaters, die dieser in den 1980er Jahren angefertigt hat (als noch alles zu lesen war), herangezogen und die entsprechenden Wörter in eckigen Klammern ergänzt.
  2. Gemeint sind die beiden Schwestern Maria Vonessen und Christine Dahmen und der Bruder August Zenzes
    (senior). Alle anderen Geschwister waren zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben.
  3. In (Essen-) Rellinghausen wohnte die Schwester Maria Vonessen mit ihrer Familie.
  4. Gemeint ist der nord-norwegische Ort Sulitjelma. Die durchgehend falsche Schreibweise im Brief wurde hier korrigiert.
  5. Die Ehefrau von Alexander Zenzes.
  6. Eine Uhr, die man auf einen Kaminsims, eine Kommode o. ä. aufstellte.
  7. Sowohl Alexander als auch Leo Zenzes waren Hütten-Ingenieure.
  8. Gemeint ist Majdanpek in Serbien, wo auch die ersten beiden Kinder von Leo und Gudrun Zenzes geboren
    worden sind. In der Stadt gab es eine große Kupfermine, wo Leo Direktor war.
  9. Bodø ist eine Küstenstadt im nördlichen Norwegen. s.map
  10. s.map
  11. Dieser Begriff bezeichnet einen Gichtanfall im Großzehgelenk, der mit einer Tinctura Colchic behandelt wurde.
  12. Damaliger Name von Oslo.
  13. Trondheim.
  14. Der norwegische Kapitän Elias Anton Smith (1842-1912) war mit der Norwegerin Ingeborg Anna Røvig-Rønning (* 1846) verheiratet und lebte in Trondheim (Angaben von Peder Tornehøj Wiese in „Geni“).
  15. gemeint ist Finneid in der Nähe von Fauske